Eine lebendige Erinnerungskultur und Geschichtspolitik verlangt nach Debatte und gesellschaftlichem Diskurs. Einem Irrtum unterliegt, wer denkt, es gäbe Einsichten aus der Geschichte, die eine gesamte Gesellschaft für immer teilt. Im Gegenteil: Wir sind zunehmend mit einer politischen Situation (wir befinden uns im Herbst 2023) konfrontiert, in der geschichtsrevisionistische Standpunkte und Haltungen auf dem Vormarsch sind. Sie korresponieren dabei mit einem wachsenden Gewicht manifest rechter und rechtsextremer Bewegungen und´Parteien. Mit unserem jeden zweiten Monat erscheinenden Newsletter wollen wir allen Interessierten ein Mitteilungs- und Debattenforum bieten, sich zu diesen und anderen Fragen und Problemen zu äußern.
Auch diese website stellt solch ein Forum für eine Debatte um möglichst viele Aspekte von Geschichts- und Erinnerungskultur dar. Die Redaktion freut sich über Beiträge und wird bemüht sein, allen in angemessener Form gerecht zu werden.
Im März/April 2021 wurde in Hannover heftig um Identitätspolitik und ihre Ausgrenzungstendenzen gestritten.
Anlass war die Absage eines geplanten Vortrags von Prof. Dr. Helmut Bley zum Thema „Kolonialgeschichte von Afrikanern und Afrikanerinnen her denken“ durch die Stadt Hannover, weil diverse Gruppen meinten, ein „alter weißer Mann“ könne zu diesem Thema keine kompetente Haltung einnehmen. Der Vorfall wurde von uns im Newsletter März 2021 mit einem ausführlichen Artikel aufgegriffen. Simon Benne (Redakteur der HAZ) nutzte den Artikel für eine ausführliche Berichterstattung – ohne uns als Quelle zu benennen -, die weite Kreise zog. Der Artikel von Peter Schyga aus dem Newsletter sei an dieser Stelle noch einmal gesondert veröffentlicht. Wir werden die Debatte weiter verfolgen und vorantreiben. In der Mai-Ausgabe der Zeitschrift SPW ist ein Gepräch zwischen Peter Schyga und Helmút Bley wiedergegeben, in dem multiperspektivisch auf die Entwicklung von Kapitalismus und Kolonialismus geblickt wird. Es geht beiden um eine versachlichte Wahrnehmung globaler Entwicklungen von Abhängingkeiten. S.https://www.spw.de/xd/public/content/index.html
Straßenumbenennungen in Hannover
Mehrfach haben wir in unserem Newsletter und an andern Orten zu dem in Hannover seit langem virulenten Streitthema der Umbennung von Straßen, die in die NS-Zeit tief verstrickte Peronen ehren, berichtet und Stellung bezogen. Auf Anregung von Mitgliedern veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Kommentar von Peter Schyga, der im Newsletter März 2020 abgedruckt war. Gerne würden wir zu diesem Thema Stellungnahmen und Stimmen vernehmen, die dann selbstverständlich auf Wunsch hier und/oder im Newsletter veröffentlicht werden würden.
Straßenumbenennungen als politische Farce
Ein Kommentar von Peter Schyga
Nun hat sich laut Nachricht der HAZ vom 14. März 2020 auch der Stadtbezirksrat Döhren-Wülfel mit großer Stimmenmehrheit in die Phalanx der Possenspieler eingereiht, die meinen, geschichtspolitische Entscheidungen – die weitere Ehrung des ehemaligen Landesbischofs Marahrens und des Schriftsteller Josef Ponten durch Straßennamen stand zur Debatte – gehörten nicht zu der Aufgabe gewählter Parlamente, sondern seien einem wie immer gearteten „Votum der Anlieger“ verpflichtet. Der Bezirksrat Mitte war schon vorher von seinem Beschluss, die Ehrung der Person Hindenburg aus dem Straßenbild zu tilgen, abgekommen und hatte nach Art eines Preisausschreibens Anwohner*innen zum heiteren Namenswürfeln eingeladen. Mit dem Porsche Weg in Vahrenwald machte es sich der zuständige Bezirksrat einfach und lehnte eine Umbenennung schlichtweg ab.
Nun kann man/frau zu Straßenumbenennung als Instrument von demonstrativer Geschichtspolitik stehen wie er/sie will. Symbolpolitik bleibt solch Akt immer. Nur Tatsache ist: Ein demokratisch gewähltes parlamentarisches Gremium wie der Rat der Stadt hat auf der Grundlage von Sachverständigengutachten mit guten Argumenten beschlossen, die öffentliche, durch Straßenbezeichnungen dokumentierte Ehrung von tief in den Nationalsozialismus verstrickten Personen nicht mehr hinnehmen zu wollen. Doch was geschah dann. Statt in die zu erwartende und natürlich massiv einsetzende Widerspruchsdebatte offensiv und öffentlich einzutreten, wurde die politische Verantwortung für diesen Beschluss delegiert – in die Bezirksräte und von denen zu des „Volkes Stimme“. Diese äußert sich dann gewöhnlich durch Bedenken tragende, Taten und Worte – am besten unter dem Hinweise „damals waren andere Zeiten“ – relativierende Lautsprecher, denen sich konservativ nennende Kräfte im Parlament annehmen. Diesen wird dann von Gutmeinenden mit martialisch-entschlossen klingenden Worthülsen wie „Durch das Ausmerzen von Straßennamen merzt man den Faschismus nicht aus“ (Bezirksbürgermeisterin Antje Kellner lt. HAZ) in der Sache entgegengekommen. Ganz nebenbei darf die Dame darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Ausmerze“ originär und extensiv von den Nationalsozialisten zur Vernichtung „undeutscher“ menschlicher Existenzen verwendet wurde. Es verbietet sich eigentlich, im demokratischen Diskurs diesen Begriff zu benutzen.
Doch abgesehen von diesem und anderen verbalen Eiertänzen, von Aussagen wie, ein NS-Parteigänger sei „verblendet“ gewesen – übrigens der zentrale, in der Öffentlichkeit eingängige Begriff zur Entschuldung der NS-Parteigänger in der Nachkriegszeit –, darf die Frage gestellt werden, warum erhebliche Teile der politischen Verantwortungsträger in der Stadt vor Stimmen zurückweichen, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Nationalsozialismus weichspülen möchten. Um den „Vogelschiss“-Spruch des Geschichtsrevisionisten Gauland wird in jeder Mahnrede ein Gewese gemacht, um als einsichtige/r Geschichtsversteher*in ausgewiesen zu sein. Doch wenn vor Ort „Volkes Stimme“ in ähnlicher Diktion daherkommt, wenn aus NS-Parteigängern „ambivalente“ Persönlichkeiten – so eine Kennzeichnung von Bischof Marahrens oder auch von Hindenburg– werden, bleibt bald nur noch die enge Riege der NS-Partei- und Staatsführung als nicht zu ehrende weil eindeutig verbrecherische Instanz übrig. Auch diese Sicht auf den Nationalsozialismus hatten wir schon mal: Von 1945 bis weit in die sechziger Jahre hinein, als sich deutsche NS-Parteigänger als Hitlers verführte Opfer verstehen und darstellen wollten. Es hat heftiger Anstrengungen in Forschung, ihrer Vermittlung, in gesellschaftlicher Mobilisierung und in erinnerungs- und gedenkkulturellen Debatten bedurft, um zu Einsichten zu gelangen, die solch Verharmlosung zurückweisen. Es macht heute wenig Sinn, allgemein und im Gedenkredenmodus mit Verve Rassismus und Antisemitismus, Hass- und Hämeagitatoren zu verurteilen, Geschichtsvergessenheit und Demokratiefeindlichkeit zu geißeln, wenn Lautsprecher*innen ähnlichen Kalibers in der Nachbarschaft nicht massiv und beschlusskräftig widersprochen wird.
Selbstverständlich kann man/frau mit gutem Grund gegen eine Straßenumbenennung als ungeeignetes Instrument von Geschichtspolitik votieren. Der liegt dann aber darin, eine öffentliche Auseinandersetzung darum zu führen, was denn die Motive derjenigen waren, die Personen, die damals für integer und damit würdig gehalten wurden, Ehrungen im öffentlichen Raum angedeihen ließen. Dann wird festgestellt werden dürfen, dass wir in eine Zeit der diffusen Rechtfertigung und Verharmlosung von Worten und Taten von Altvorderen aus der NS-Zeit nicht zurück möchten, dass wir tatsächlich aus der Geschichte gelernt haben. Und dann werden beide, die Namenspatronen und ihre damaligen Ehrerbietungsprotagonisten im öffentlichen Raum einer kritischen Sicht unterworfen. Dann mögen Straßennamen erhalten bleiben – na und? Doch bei einer Aufnahme der Auseinandersetzung mit Gestern und Vorgestern wird gewiss mehr geschichtspolitische Einsicht angeregt, als in einem irrlichternden Verfahren Richtiges zu wollen, um dann Sprechblasen produzierend vor historischer Ignoranz die Segel zu streichen.
Hinweisen möchten wir auf die Initiative ZusammenGEdenken
ZusammenGEdenken: Für eine offene, plurale und partizipative Erinnerungskultur
In einem gemeinsamen offenen Brief haben Initiativen aus ganz Deutschland, die sich für die Erinnerung an den Nationalsozialismus einsetzen, deutlich Stellung bezogen gegen jegliche Form der Relativierung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen.
Sie betonen dabei, dass die Erinnerungskultur aus der Gesellschaft heraus entstanden sei und entstehe. Weiter fordern die Initiativen auf:
„Alle können unsere Arbeit und Inhalte kennenlernen, können aktiv mitwirken und unterstützen, können hinterfragen und diskutieren.“ Und sie warnen vor „Hetze, Rassismus und Antisemitismus in der Öffentlichkeit, im Internet und in den Parlamenten“, die die offene und plurale Gesellschaft bedrohen.
Die dringend notwendige Lebendigkeit und Weiterentwicklung der Erinnerungskultur zeigt sich gegenwärtig am Beispiel des ehemaligen KZ Sachsenburg in der Stadt Frankenberg (Sachsen). Dort befand sich von1933 bis 1937 eines der frühen nationalsozialistischen Konzentrationslager. Das fast vollständig erhaltene Gesamtensemble stellt eine herausragende Grundlage dar, um die verschiedenen Perspektiven auf das Lager von Täterschaft, Opfern, der Einbindung in die Gesellschaft sowie den nationalsozialistischen Machtapparat zu vermitteln. Statt die bestehenden Originalgebäude als Lernort weiter zu erhalten, soll die frühere Kommandantenvilla als eines der wichtigsten Teile des Geländes abgerissen werden. Obwohl es auch in Sachsen viele frühe Konzentrationslager gegeben hat, fehlt es bisher an einer entsprechenden Gedenkstätte, die diesen Teil der Geschichte in den Blick nimmt. Hier kann gezeigt werden, wie die Lager zur Machtsicherung der nationalsozialistischen Diktatur dienten. Für die politisch-historische Bildungsarbeit wäre ein alle Gebäude umfassender Lern- und Gedenkort eine einmalige Chance, die aber derzeit nicht ergriffen wird.
Ausführliche Informationen bietet die Seite https://gedenkstaette-sachsenburg.de/
In Niedersachen gibt es, wie der Presse zu entnehmen war, gegenwärtig vonseiten des Landkreises Emsland das Bestreben, die Zivilgesellschaft in Form des Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager (DIZ) aus der Gedenkstätte Esterwegen herauszudrängen. Eine Weiterentwicklung der Erinnerungskultur ohne die Gefahr bürokratischer Verkrustung ist aber nur unter Einbeziehung des ehrenamtlichen bürgerschaftlichen Engagements möglich. Das muss aktiviert, bewahrt und gestärkt werden.
Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen!
Der offene Brief kann hier eingesehen und unterzeichnet werden: